
Am 6. März 1877 wurde ich in Barmen geboren als ältester Sohn des damaligen Oberlehrers
Dr. Wilhelm Fries, eines gebürtigen Schlesiers, und seiner Ehefrau Lucie geb. Delius
aus Bielefeld. Weder an Barmen, noch an Eutin, wohin mein Vater 1880 als Direktor gerufen wurde,
behielt ich greifbare Erinnerungen. Das eigene Bewußtsein erwachte erst in Halle, wo mein
Vater Ostern 1881 als Direktor der lateinischen Hauptschule der Franckeschen Stiftungen
angestellt wurde; da er 1892 beim Tode des Vorgängers Dr. Otto Frick an die leitende Stelle
aufrückte und auch jetzt noch in voller Frische neben allen anderen Pflichten vor allem
das Erbe Aug. Herrn. Francke's hütet, so wurden und blieben und sind eben diese Stiftungen
meine Heimat, in der ich wurzle.
Dort im "Waisenhaus" ging ich vorn 6.-18. Lebensjahr zur Schule und lernte am Vorbild
meiner Eltern unter strenger Zucht, was es heißt, seine Pflicht zu erfüllen. Der
lebendige Verkehr eines reichen Familienlebens, der persönliche Austausch in einem Kreis
von 8 Geschwistern, die Ferien mit ihren Freuden vor allem im unvergeßlichen Großelternhaus
in Bielefeld sorgten dafür, daß die Arbeit keine Last wurde. Nur meiner Mutter, die es
verstand, jedes ihrer Kinder individuell zu erziehen, der es darum zu tun war, uns von Kind auf
an einen lebendigen Verkehr mit dem Heiland zu gewöhnen, danke ich es, daß über
allen Pflichten die oberste Pflicht an erster Stelle stand; ihr danke ich das niemals
drängende und doch stets überzeugende Vorbild kindlichen Betens, ihr danke ich es,
daß meine Konfirmationszeit unverloren war und daß ich in der letzten Schulzeit mit
innerer Freude und Verständnis unter der Kanzel Heinrich Hoffmanns von St. Laurentius
saß. Als ich Ostern 1895 die "Latina" mit dem Reifezeugnis verließ, war
das längst klar, daß ich Theologe werden dürfte und wollte.
Als ein nach manchen Seiten hin engherziger Mensch ging ich aus der Zucht des Elternhauses und
der Schule in die akademische Freiheit. Im ersten Semester in Halle fand ich noch nicht den
rechten Übergang, und erst in Greifswald begann die eigentlich selbständige Entwicklung
(Mich. 1895 - Mich. 96). Das war eine Zeit des Ringens und Kämpfens, in der neben
aller ernsten Arbeit und neben allem freien und frohen Austausch mit gleichgesinnten Freunden
im Wingolf das Herz oft zitterte unter dem sittlichen Problem, und in der nicht ohne den
Einfluß der wuchtigen Persönlichkeit Prof. Cremer's ein selbständiger Glauben
wuchs. Aber erst bei der Rückkehr nach Halle, wo ich bis zum Ende der Universitätszeit
im Elternhaus wohnen konnte, kam ich tief hinein ins theologische Studium, wobei Prof.
Käh1er, dem ich nahestehen durfte wie ein Sohn, mir die Wege wies. War es mir eigentlich
von Anfang an bewußtermaßen ein heiliges Anliegen, die Schrift zu verstehen und den
biblischen Inhalt geistig und systematisch zu verarbeiten, so konnte ich eben auch keinen
besseren Führer finden als den bedeutenden Hallenser Dogmatiker, der bei aller Gebundenheit
an Gottes Wort die Freiheit des Evangeliums lehrte. Dass ich aber in dem Gewirr von theologischen
Einzeldisziplinen das praktische Ziel nicht aus den Augen verlor und über aller kleinlichen
Kritik den weiten Horizont christlicher Wissenschaft nicht vergaß, das danke ich der
Mission und der inneren Gewißheit, dass ich ihr dienen müsse.
Genau kann ich's selbst nicht sagen, wie solcher Drang in mir gekeimt und stetig gewachsen ist,
vom 12. Lebensjahr ab. Daß ein Schüler der Stiftungen von unserem Hause Abschied nahm, um
in die Mission zu gehen, war vielleicht der erste Anstoß. Von Tertia an war es meine
Freude und Erholung, auf der Bibliothek der "Ostindischen Missionsanstalt" zu lesen
und im Schüler - Missionsverein der Stiftungen zu referieren, um den Jüngeren Lust zu
machen; in den Räumen, in denen einst Zinzendorf zur Schule ging, hielten wir unsere
sonntäglichen Missionsstunden. Der kirchengeschichtlich so bedeutsame Boden meiner Heimat
half wirklich mächtig, den inneren Zug gewiß zu machen: Aug. Hermann Francke hatte es
mir angetan, seit ich seine Biographie gelesen: seine Stiftungen, in denen ich jeden Stein kenne,
wurden mir eine lebendige Predigt weltüberwindenden Glaubens, und ich dachte es mir als
Abiturient am schönsten, nach dem historischen Trankebar zu ziehen. Erst das Bekanntwerden
mit dem Konfessionalismus der Leipziger Miss.-Gesellschaft brachte mich von diesem Wunsche ab
und lenkte meinen Blick in meine Geburtsstadt zurück. Da Dr. Schreiber fast
alljährlich zur sächsischen Miss.-Konferenz nach Halle kam und in unserem Hause
wohnte, so entstand die Bindung an Barmen auf ganz natürlichem Wege, und von 1896 ab sehnte
ich mich nach dem Augenblick, da ich im Dienst der Rhein. Miss.-Gesellschaft ausgesandt werden
könnte. Der Eintritt in den "Studentenbund für Mission", die spätere
Mitarbeit in dessen Vorstand und die rege Beteiligung an den Vorlesungen des Miss.-Professors
Dr. Warneck waren mir Zeichen dafür, dass mein innerer Entschluß fest geworden war.
Ostern 1899 absolvierte ich an der Universität Halle mein erstes theologisches Examen. Der
folgende Sommer führte mich nach einem 6-wöchigen, lehrreichen Seminarkursus in
Halberstadt nach Tübingen in die Kreise des württembergischen gesunden Pietismus,
zur Festwoche nach Basel, in die Schweiz und nach Tirol. Der P1an, von dort aus mit Hilfe eines
Stipendiums für 3 Jahre nach Utrecht zu gehen, zerschlug sich; statt dessen kam ich
Okt. 1899 als Lehrvikar in die Lutherstadt Mansfeld a/Hz. zum Superintendenten Behrens.
Die Erstlingsversuche praktischer Arbeit, vor allem die Seelsorge im dortigen Siechenhaus
samt allen reichlichen Aufgaben in der ausgedehnten Ephorie fesselten mich dermaßen,
dass ich nur mit ungeteilter Freude u. Dank auf diese Zeit der ersten Liebe zurücksehen
kann. Die Ruhe zur Vorbereitung für das 2. Examen durfte ich im Winter 1900/1901 wieder
in Halle suchen, die Prüfung pro ministerio bestand ich dann im März 1901 in
Magdeburg.
Einen gewaltigen Contrast zu alledem bildete das Dienstjahr in Halle (1901-02), wo mir für
die Wirklichkeit die Augen geöffnet wurden und wo mir die gemütlichen Eindrücke
den Militärdienst oft zu einer Crux machten.
Ostern 1902 konnte ich mich dann endlich in Barmen melden und wurde von meinem geliebten
Dr. Schreiber als Hilfslehrer an der Vorschule willkommen geheißen. Die 1 1/2 Jahre im
Zentrum meiner Geburtsstadt haben mich durch reiche Arbeit, durch reiche Freude und bitteres
Leid unlöslich mit unserem Miss.-Haus verknüpft; der Unterricht, Schreibtischarbeit
und die Reisen waren gleichermaßen für mich fruchtbar, und bei diesen Aufgaben allen
machte mich die innere Gemeinschaft mit Herrn Dr. Schreiber froh, in dessen Haus ich wie ein
Kind verkehren durfte, in dessen Haus ich auch im Jubiläumsjahr am Sterbebett
stand (26.III.1903). Eben dies Erlebnis mit seinen Konsequenzen, andere schwierige Fragen
familiärer Natur, die Verlobung mit Elfriede Winkler, jüngster Tochter des
verstorbenen Sup. W. in Mühlhausen und persönliche Dinge, die nicht hierher
gehören, haben mir den Barmer Aufenthalt zu einer reichhaltigen Vorschule für den
Miss.-Dienst gestaltet.
So kann ich nicht anders, als laut für Gottes Führung danken; danken für einen
Reichtum persönlicher Beziehungen, danken für die Einflüsse von Gottesmenschen,
die mir auf dem Wege begegneten, danken vor allem, dass ich nun nach Nias wirklich ausziehen
darf. Und wenn ich auch gehe auf Grund eines vom Herrn gepflanzten inneren "muss", so
weiß ich doch genau, daß ich Armer dessen nicht wert bin; das habe ich in jedem Jahre
mehr erfahren, daß ohne den Heiland Jesus Christus mein Dasein wertlos ist, drum ist's, meines
Lebens Glück und heute mein Dank, daß ich anderen sagen darf und sagen soll das
Evangelium vom Reiche Gottes, daß ich predigen darf vom Kreuz Jesu Christi.
II Cor. 5, l4-15.
Barmen, 25.9.03.